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Fage - Eine verpasste Chance

  • Publié le 27.10.2020

Seit geraumer Zeit besteht der Eindruck, dass in Luxemburg die Ansiedlung neuer Industriebetriebe nicht mehr erwünscht ist. Sobald eine größere Firma aus dem Ausland den Wunsch äußert, sich im Großherzogtum niederzulassen, werden von vielen Seiten unzählige Gegenargumente hervorgebracht und meinungsbeeinflussende Negativkampagnen in den Medien gestartet, bis dass die Firma die Entscheidung trifft, sich zurückzuziehen.


Industriebashing

Seit geraumer Zeit besteht der Eindruck, dass in Luxemburg die Ansiedlung neuer Industriebetriebe nicht mehr erwünscht ist. Sobald eine größere Firma aus dem Ausland den Wunsch äußert, sich im Großherzogtum niederzulassen, werden von vielen Seiten unzählige Gegenargumente hervorgebracht und meinungsbeeinflussende Negativkampagnen in den Medien gestartet, bis dass die Firma die Entscheidung trifft, sich zurückzuziehen. Aktuelles prominentes Beispiel ist die Joghurtfabrik: Von allen Seiten hagelte es Kritik, angefangen bei vereinzelten Regierungsvertretern, für die das Projekt nicht nachhaltig genug war, beziehungsweise einen zu großen Ressourcenverbrauch hatte, bis zu den anliegenden Gemeinderepräsentanten, die teils vehement versuchten die Niederlassung zu verhindern. Einzig die Gemeinde Düdelingen gab ein zaghaft positives Gutachten ab, zeigte allerdings mehrmals mit dem bösen Finger und forderte Nachbesserungen in vielen Aspekten. Nach über vier Jahren andauernden Prozeduren ohne Ende in Sicht zieht Fage nun die Reißleine. Eine verpasste Chance.

Die Frage stellt sich, ob die Schaffung von lokalen, nachhaltigen Arbeitsplätzen nichts mehr wert ist. Haben die Menschen etwa vergessen, woher der Wohlstand Luxemburgs stammt?

Exkurs in die Wirtschaftsgeschichte Luxemburgs

Vom armen Agrarstaat im 19. Jahrhundert mutierte das Land mit der industriellen Revolution und Dank großer Eisenerzvorkommen im Süden zu einem wohlhabenden Industriestaat. Während des 20. Jahrhunderts wurde die Wirtschaft lange Zeit von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt, die ihren Höhepunkt Anfang der siebziger Jahre erreichte mit einem Wertschöpfungsanteil von knapp 30 % und ca. 30 000 direkten Arbeitsplätzen. Luxemburg und seine Einwohner haben ihren Wohlstand und Entwicklung also größtenteils der Industrie zu verdanken. Seit der Stahlkrise Ende der siebziger Jahre und dem Fortschreiten der Globalisierung nehmen die industriellen Aktivitäten allerdings stetig ab. Der Anteil der Industrie am BIP beträgt heuer nur noch knapp 7 % und ein Ende des Sinkflugs ist nicht in Sicht, was die angekündigten und branchenübergreifenden Arbeitsplatzreduzierungen oder Umstrukturierungen beweisen (Glas, Automobil, Stahl).

Um die Abhängigkeit von der Schwerindustrie zu verringern bemühte sich der luxemburgische Staat ab den sechziger Jahren um die Diversifizierung seiner Wirtschaft, unter anderem mit dem Aufbau des tertiären Sektors und dem Finanzplatz, was sich als kluge Entscheidung herausstellte. Im Gegenteil zum Industriesektor wächst der Dienstleistungssektor fortlaufend, wobei der Finanzplatz die Spitzenreiterposition in der Wirtschaft mit fast 30 % Wertschöpfungsanteil längst übernommen hat. Die letzte Finanz- und Bankenkrise hat allerdings die neue Abhängigkeit Luxemburgs schonungslos aufgedeckt.

Gegen den Meinungsstrom

Zurück zum Joghurt. Was wäre, wenn das besagte Projekt doch nicht so schlecht gewesen wäre, als es dargestellt wurde? Wäre es nicht vielleicht sogar nachhaltiger als angenommen? Hätte es obendrein neue Geschäftsaktivitäten für andere Firmen geschaffen? Wir möchten im Folgenden, aus unserer Sicht, die positiven Aspekte des Projektes herausskizzieren, und auch die Frage, die sich der Leser sicherlich stellt, beantworten, weshalb das Handwerk Lobbyarbeit für den Industriesektor betreibt.

Laut Definition fußt die Nachhaltigkeit auf dem Drei-Säulen-Prinzip, in dem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit ökologischer Verantwortung und sozialer Gerechtigkeit gleichberechtigt miteinander verbunden sind. Joghurt ist intrinsisch ein gesundes Naturprodukt, was den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft gerecht wird. Bei der Produktion wäre die kostbare Ressource Trinkwasser zwar in großen Mengen gebraucht worden, was im Übrigen einer der Hauptkritikpunkte war. Hierbei hatte allerdings das Wasserwirtschaftsamt bereits signalisiert, dass ausreichend Kapazitäten bereits heute vorhanden sind und mittel–und langfristig zusätzlich landesweit ausgebaut werden. Eine weitere Sorge war die zusätzliche Belastung der Alzette durch das Abwasser. Im Projekt war jedoch vorgesehen eine eigene Kläranlage nach dem neuesten Stand der Technik zu bauen, um die negativen Umwelteinflüsse so niedrig wie möglich zu gestalten. Hinzu kommt, dass sich bereits jetzt eine Firma in unmittelbarer Nähe des Standortes angesiedelt hatte, die im „Clean Tech“ Bereich tätig ist, und mit Hilfe von Nanotechnologie Schadstoffe aus belastetem Wasser herausfiltern, und somit eine Kreislaufwirtschaft ermöglicht hätte, was den Trinkwasserverbrauch drastisch reduziert hätte. Und das ist der springende Punkt, der den wirtschaftlichen und sozialen Impakt des Projektes untermauerte, und doch eine solide Nachhaltigkeit garantierte: eine Ansiedlung eines Betriebes einer solchen Größe schafft Innovation und belebt die lokale Wirtschaft! Es wären nicht nur direkte Arbeitsplätze, wie die 200 annoncierten, entstanden, sondern ein Vielfaches mehr.

Die Industriebetriebe von heute konzentrieren sich mittlerweile nur noch auf ihr Kerngeschäft, beschäftigen ein Minimum an Personal und sourcen immer mehr Aktivitäten aus, so dass viele kleinere Betriebe als sogenannte Subunternehmen Dienstleistungen für sie verrichten, sei es in der Instandhaltung, der Logistik, der IT oder in anderen Bereichen. Diese Betriebe sind meistens Handwerksbetriebe, wie Elektrikerbetriebe, Schlossereien und Metallbaufirmen, Automatisierungsspezialisten, Reinigungsfirmen und viel andere. Das luxemburgische Handwerk ist stolz auf seine lange Nachhaltigkeitstradition und es lebt Nachhaltigkeit jeden Tag – aus tiefer Überzeugung.

Nachhaltigkeit im Handwerk

Nachhaltigkeit im Handwerk hat viele Dimensionen. Handwerk ist modern, innovativ und aufgeschlossen. Handwerker reparieren und restaurieren. Sie stehen für Verbindung von Tradition mit Zukunft, erschaffen und bewahren dauerhaft Werte. Sie achten auf sparsamen Materialeinsatz und sparen Ressourcen, wo immer es geht. Meister bilden aus und geben wertvolles Wissen an junge Menschen weiter, sie sorgen für die Fachkräfte von morgen. Betriebsinhaber im Handwerk denken nicht in Quartalsberichten, sondern handeln in dem Wissen, dass sie ihren Betrieb eines Tages an die nächste Handwerkergeneration übergeben werden. Handwerker sind im besonderen Maβe mit ihrem Umfeld verbunden und bringen sich in die Gesellschaft ein. Sie bewahren durch ihr vielfältiges ehrenamtliches Engagement die sozialen Grundlagen, die es für erfolgreiches Wirtschaften braucht. Die Corona-Pandemie hat zudem vor Augen geführt, wie wichtig regionale Wertschöpfung und Fertigung sind, da Schneider, Raumausstatter, Tischler, Textil–und Gebäudereiniger von „Nebenan“ kurzfristig bei der Produktion von Schutzausrüstungen und der Umsetzung von Hygienekonzepten aktiv werden konnten.

Das Land braucht einen Mentalitätswandel

Es ist höchste Zeit das Bestreben für eine wirtschaftliche Diversifizierung proaktiv anzugehen, damit ein gesundes Gleichgewicht zwischen den einzelnen Sektoren geschaffen und die luxemburgische Wirtschaft nachhaltig entwickelt wird. In Punkto Industriepolitik muss ein für alle Mal eine nachhaltige Strategie festgelegt werden, wie das Land sich zukünftig aufstellen will, damit solche imageschädigenden Diskussionen nicht wieder aufflammen. Hierbei sollte man bei der Auswahl neuer Industriebetriebe nicht zu wählerisch sein, denn dieser Schuss könnte nach hinten losgehen. Die dunkelschwarz aufziehenden Wolken am krisengebeutelten Wirtschaftshorizont müssten eher dazu führen, dass alles getan werden muss, um neue Betriebe anzuwerben. Denn das Land braucht auch produzierendes Gewerbe. Es muss zu einem Wandel in den Köpfen von den Menschen kommen, nicht alles als Bedrohung aufzufassen, sondern neue Chancen zu erkennen. Eine Unterstützung großformatiger Projekte von multinationalen Konzernen bedeutet gleichzeitig auch Unterstützung des lokalen Handwerks.

Die Politik kann den wichtigen Beitrag leisten, indem sie die Ansiedlung neuer Fabriken zum Anlass nimmt, um Innovation in Punkto Kreislaufwirtschaft, Umweltschutz und Energieeffizienz  zu fördern und indem sie die Neuankömmlinge mit den lokalen Wirtschaftsakteuren zusammenbringt, auch in gemeinsamen Aktivitätszonen, und somit doch für Nachhaltigkeit sorgt. Und somit die Zukunft Luxemburgs gestaltet.

 

Tom WIRION

Directeur général

&

Gilles REDING

Directeur des Affaires environnementales, technologies et innovation

 

Chambre des Métiers du Grand-Duché de Luxembourg